Beim nachfolgenden Beitrag handelt es sich um einen Gastbeitrag von Stephan Kulla.
Die Hamburger Open Online University hat mich eingeladen, um über das Projekt „Mathe für Nicht-Freaks“ zu berichten. Dies möchte ich nun zum Anlass nehmen, um meine Erfahrungen aus den letzten sechs Jahren zusammenzufassen. Für den Fall, dass du „Mathe für Nicht-Freaks“ nicht kennst: Dies ist eine frei zugängliche Lehrbuchreihe der Hochschulmathematik, die ähnlich wie die Wikipedia funktioniert und die insbesondere mathematische Konzepte sehr verständlich erklärt.
Der Anfang
Zunächst möchte ich dir berichten, wie ich zum Projekt kam. Ich war damals im ersten Semester meines Mathestudiums und habe vielen meiner Kommilitonen Nachhilfe gegeben. Sie hatten – wie viele andere Studienanfänger auch – große Probleme, die abstrakte Hochschulmathematik zu verstehen. Die von uns damals genutzten Lehrbücher waren keine große Hilfe: Viele von Ihnen waren nach einem strikten Definition-Satz-Beweis-Schema aufgebaut, welches viele Fragen unbeantwortet ließ: Wieso braucht man mathematische Konzepte? Was ist die Intuition hinter einem mathematischen Konzept? Wie kann man selbst auf einen Beweis kommen beziehungsweise wie muss ein Beweis aufgeschrieben werden?
Dies war dann auch der Ausgangspunkt für „Mathe für Nicht-Freaks“. Ich wollte ein Lehrbuch schreiben, welches nicht nur den mathematischen Formalismus beschreibt, sondern auch die Ideen und Intuitionen hinter den Konzepten erklärt. Ich bin mir sicher, dass diese Zielsetzung wesentlich zu unserem Erfolg beiträgt. Deswegen empfehle ich auch dir in deinem Projekt, dass du dein Ziel klar beschreibst. Was ist der Mehrwert von deinem Projekt? Welches Problem löst es? Was macht dein Projekt einzigartig und wieso sollten andere gerade dein Projekt und nicht andere benutzen?
Basierend auf den Vortrag How to know your life purpose in 5 minutes von Adam Leipzig möchte ich noch zwei Fragen hinzufügen: Welchen Personen hilfst du mit deinem Projekt? Woran merken diese Personen, dass du mit deinem Projekt erfolgreich bist? Für mich ist es beim Schreiben nämlich sehr hilfreich, wenn ich den Fokus auf den Menschen lege, dem ich helfen will. So antworte ich beispielsweise auf die Frage „Was machst du?“ nicht mehr mit „Ich schreibe ein Lehrbuch“ sondern „Ich helfe Studentinnen und Studenten Mathematik zu verstehen“.
Abstrakte Konzepte vermitteln
Ich möchte dir einen Tipp geben, wie du abstrakte Konzepte vermitteln kannst. Denke hierzu bitte an den Begriff einer Funktion. Was sind deine Vorstellungen zum Begriff Funktionen? Woran denkst du?
Denkst du an die formale Definition der Funktion?! Denkst du daran, dass eine Funktion eine Abbildung ist, die jedem Element der Definitionsmenge genau ein Element der Wertemenge zuordnet?! Wahrscheinlich nicht. Du hast vielleicht Beispiele im Kopf, diverse Abbildungen, bestimmte Gefühle oder Anwendungsbeispiele.
Diese Vorstellungen werden in der Mathematikdidaktik concept image genannt und deine Aufgabe als Lehrender ist die, diese Vorstellungen – neben der formalen Definition – dem Lernenden zu vermitteln. Dies ist keine einfache Aufgabe! Gegebenenfalls musst du deine Vorstellungen zunächst schärfen und Lücken in diesen schließen. Kannst du beispielsweise begründen, wieso man sich mit dem Begriff beschäftigen sollte?! Auch der „Transfer“ deiner Vorstellung in den Kopf des Lernenden ist nicht einfach. Nutze hier alle Möglichkeiten, die dir zur Verfügung stehen: Texte, Abbildungen, Videos, Animationen, etc. Zusammenfassung: Vermittle nicht nur den Formalismus, sondern auch die Intuition hinter einem Begriff.
Aufbau und Betreuung einer Community
Für den Fall, dass du für dein Projekt ehrenamtliche Mitarbeiter suchst: Stell dich darauf ein, dass es sehr schwierig wird. Habe ich „schwierig“ gesagt?! Ich meinte natürlich „extrem schwierig“.
In meinem Projekt ist es so: Von 100 angesprochenen Personen hatte nur einer Interesse. Von 10 Leuten, die ihr Interesse bekunden, wird nur einer aktiv. Von 10 aktiven Autoren engagiert sich nur einer länger als ein Jahr. Geschätzt muss ich also 10.000 Personen ansprechen, um einen aktiven Autor bzw. eine aktive Autorin zu finden.
Ich denke, dass dies typisch für freie Projekte ist. Ich habe einmal die Anekdote gehört, dass der Medizin-Bereich der Wikipedia im Kern von nur zehn sehr aktiven Autorinnen und Autoren erstellt wurde. Ich weiß nicht, ob diese Anekdote wahr ist oder nicht, sie deckt sich aber mit meiner Erfahrung. Zwei Dinge leite ich auf dieser Anekdote ab: Es ist zwar extrem schwierig, engagierte Ehrenamtliche zu finden, jedoch kannst du mit sehr wenigen Personen sehr viel erreichen und bewegen.
Was ist wichtig im Aufbau einer ehrenamtlichen Community? In meinen Augen sind es zwei Dinge: Zum einen ist es eine gute Betreuung, bei der du zeitnah Feedback auf die Beiträge der Community-Mitglieder gibst. Zum anderen ist es der persönliche Kontakt: Ein Telefonat ist besser als eine E-Mail und ein Treffen ist besser als ein Telefonat. Weitere Tipps zum Aufbau und zur Betreuung einer Community findest du im Artikel „Fusion von OER-Projekten: Chancen und Herausforderungen“ den ich zusammen mit anderen Autoren des Projekts erstellt habe.
Zum Abschluss möchte ich dir noch einen Tipp für die Planung von Community-Projekten mit auf den Weg geben: Mach deine Prozesse so unbürokratisch und so einfach wie möglich. Wir haben bei uns im Projekt beispielsweise das Prinzip, dass jeder alles jederzeit verändern und bearbeiten darf, ohne dass er um Erlaubnis fragen muss. Wir haben bei uns im Projekt nämlich die Erfahrung gemacht, dass bürokratische Review-Verfahren oder Einteilungen der Zuständigkeiten nicht gut funktionieren. Innerhalb eines ehrenamtlichen Autorenteams gibt es nämliche große Fluktuationen, die nicht vorhersehbar sind. Dementsprechend sind langfristige Planungen schwierig. Auch haben bürokratische Prozesse immer einen gewissen Overhead, der Zeit von der eigentlichen Erstellung der Inhalte wegnimmt.
Dieser Artikel wurde von Stephan Kulla erstellt und steht unter einer freien CC-BY 4.0 Lizenz.
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